Erlernte Hilflosigkeit

Moderator: Keshia

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kolyma
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Re: Erlernte Hilflosigkeit

Beitrag von kolyma »

Der Thread nimmt eine interessante Wendung an...

Da ich nen über 650 Kilo schweren Koloss am Bändel habe, ist für mich Erziehung das A und O. Er ist kein Pony, dass man ggf. noch wegschieben kann, sondern eine Masse an Kaltblut.
Ich versuche sehr viel über positive Verstärkung zu arbeiten, aber sehr, sehr viel mache ich (ganz klassisch) über einen gewissen Regelkatalog. Ich versuche auch nicht mir seine Unerzogenheit schön zu reden - steigt er mir auf den Fuß, steig ich ihm (im übertragenen Sinne) auf den Fuß.
Würde mal behaupten, dass wir ein sehr harmonisches Miteinander haben.

Spaziergänge waren am Anfang geprägt von rempeln, büffeln, am Strick zerren und der Paradedisziplin: bockig stehen bleiben (Tinker-Spezialität).
Da Mama aber der Meinung ist, dass frische Luft auch dem ungezogensten Bengel gut tut, musste Riesenbaby trotzdem mitgehen - und wenn es vorwärts nicht ging, dann gings halt rückwärts (ich bin wirklich, wirklich ein böser, böser Mensch...)

Ich gebe allerdings zu, dass ich jedes Mal, wenn ich mein Pferd mit negativer Vertärkung zu etwas "gezwungen" habe, ein furchtbar schlechtes Gewissen hatte, tagelang über mein Verhalten nachgrübelte, wie ich es hätte anders lösen können, usw...
Scheinbar hat mein Pferd mir mein Verhalten aber überhaupt nicht übel genommen. Im Gegenteil.

Gerade heute kam ich mit dem Knoti an (ich nehme es zu Spaziergängen immer und sonst eigentlich nie) und mein Pferd (welches mittlerweile weiß, dass Knoti = Spaziergang heißt) war hellauf begeistert - denn Spaziergänge versprechen Entspannung und ungeteilte Aufmerksamkeit vom Frauchen... Und dennoch wird auf unseren Spaziergängen grundsätzlich nicht gefressen...

Mein Fazit ist - so sehr ich mir wünsche, dass mein Pferd seine Meinung kund tut (was es trotzdem tut - und das ausgibig), kann ich nicht das Risiko eingehen, dass er selbst seine Entscheidungen trifft. Denn ich habe die Verantwortung für mich und ihn und meine Mitmenschen. Ein über eine Straße galoppierendes Pferd, welches soeben entschieden hat, dass der Spaziergang ab jetzt vorbei ist, kann ich nicht verantworten...
Ich würde IMMER versuchen das Pferd mit positiver Verstärkung zu motivieren - Maßregelungen hinterlassen bei mir nach wie vor ein sehr schlechtes Gefühl. Allerdings fände ich es geheuchelt, nicht zuzugeben, dass ich das in seltenen Fällen durchaus anwende.
Bild Geduld ist die hohe Kunst sehr langsam wütend zu werden...:ohm2: :sofort:


"Besser wenig und das Wenige gut."Egon v. Neindorff

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Lottehüh
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Re: Erlernte Hilflosigkeit

Beitrag von Lottehüh »

Ich schließe mich Kolyma an. Ab und an müssen manche Dinge eben sein. Lotti hat 900kg, wenn sie gar nicht wollen würde, würden wir wohl sicher auch nicht laufen. Aber manchmal hat sie eben keine Lust und es ist schon dunkel und pampig die erste Schlafphase ist schon vorbei und da möchte man lieber frisches Heu mampfen, als jetzt noch durch die Gegend zu latschen. So geht es mir doch auch: wenn ich von der Arbeit komme, ist es dunkel, pampig und ich könnte sofort ins Bett. Bin ich dann mal draußen, genieße ich jeden Meter. Und hab noch genügend Motivation, um Lotti zu motivieren, mitzukommen. Der Weg vom Stall weg ist für sie ein bissl blöd zu laufen. Ich weiß, dass es ihr schwerfällt. Entweder ich bitte sie erst höflich und dann verstärkt eher befehlend, mitzukommen. Das gefällt mir selbst auch nicht. Oder ich nehme einfach ein bisschen Brot oder Möhre mit und sie bekommt immer mal ein Stückchen. Wenn wir die ersten paar Meter hinter uns haben, wird der Boden viel besser und ihre Motivation ist mit uns. Manchmal muss man eben nicht nur den eigenen, sondern auch den Pferdeschweinehund überwinden ;-)

Ich denke, wegen sowas bringt man kein Pferd in die erlernte Hilflosigkeit. Es ist doch immer ein Geben und Nehmen. Manchmal darf Lotti eben den Weg entschieden, oder wenn sie wirklich gar keine Lust lass ich sie auch mal in Ruhe.
Das Leben schenkt Dir ein Pferd - reiten musst Du schon selber.
:schritt:
puscheltier
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Re: Erlernte Hilflosigkeit

Beitrag von puscheltier »

Ich würde gerne noch einen anderen Aspekt in die Diskussion mit einbringen, über den ich schon das ein oder andere Mal nachgedacht habe.

Wir kennen ja alle diese Videos, meist von Messen oder Galashows, in denen berühmte oder nicht berühmte Leute das Vertrauen zwischen ihnen und ihrem Pferd demonstieren wollen, indem sie möglichst viel komplett frei oder spektakuläres zeigen. Dabei gibt es bestimmt auch Fälle von echter Partnerschaft, dass will ich nicht bestreiten, aber ich habe oft das Gefühl, dass die Pferde einfach das Programm abspulen, weil sie zu hause gelernt haben, dass sie sowieso keine Wahl haben. Das wirkt dann partnerschaftlich, ist es aber nicht.

Und der Zuschauer wird grün vor Neid und will das auch, und am besten soll das Pferd das nächste Woche schon können.

Ich finde das ist eine Art von Missbrauch, die durchaus auf elernter Hilflosigkeit aufbaut, das Ganze dann aber noch auf die Spitze treibt, indem es angebliche Freiheit suggeriert. Oder wie seht ihr das?
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kolyma
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Re: Erlernte Hilflosigkeit

Beitrag von kolyma »

Ich schau mir solche Shows gar nicht an... Ich mag sowas nicht.

Ich gehe nur zu kleinen Vorstellungen, wo auch immer mal was nicht so klappt. Am Wochenende war ich hier im Barockreitzentrum. Eine Frau hat Freiheitsdressur mit ihrer Stute gemacht. Die Stute war wohl das erste Mal in dieser Halle und sehr, sehr aufgeregt. Sie war ständig abgelenkt, hat nach anderen Pferden gerufen und alles hat halt nicht so funktioniert. Dennoch ist die Stute immer wieder zu ihrer Besitzerin, hat Ansatzweise mitgemacht, bis die Aufregung sie wieder übermannt hat.
Die Besi sahs gelassen und hat sich auch auf die Aufregung der Stute eingelassen und nichts erzwungen sondern sie immer bestärkt, wenn sie sich wieder ihr zugewendet hatte.
Es war schön zu sehen, dass da eine wirklich innige Bindung besteht, da die Stute immer wieder Sicherheit bei der Besitzerin gesucht hat.

Diese dressierten Pferdchen ala Apassionata und Co. finde ich eher erschreckend.
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WaldSuse
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Re: Erlernte Hilflosigkeit

Beitrag von WaldSuse »

Da bin ich aber wirklich sehr,sehr froh,daß es auch noch andere gibt, die diese andressierte "Freiheit" auch recht skeptisch betrachten.Im Februar ist ja bei uns in Friedrichshafen auch wieder Pferdemesse,mit Pferdegala.Mit irgend nem berühmten Freiheitsdressurmenschen.Ich mag das aber nicht sehen!Ich denke mir dann immer,wer weiß,was da hinter verschlossenen Stalltüren vor sich geht.....
Nicht müde werden,
sondern,
dem Wunder leise,
wie einem Vogel,
die Hand hin halten.
bubi9191
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Re: Erlernte Hilflosigkeit

Beitrag von bubi9191 »

Wie fangt ihr mit der positiven Verstärkung an?

Unsere Stute ist sehr schüchtern.
In der Herde ein anderes (sehr dominantes) Pferd, unterm Sattel auch anders (da eher unsicher).

Im Umgang habe ich das Gefühl ihr sei alles egal, sie nimmt vieles nicht mehr wahr, hat einfach abgeschaltet.
Ich habe mal begonnen das Klickern mit Handtarget zu beginnen aber auch hier hat sie wenig Motivation gezeigt. Sie ist nicht gierig. Mag Leckerchen aber ist jetzt nicht "geil" drauf, bekommt sie auch selten.
Einfach am Ball arbeiten?
Sie mit etwas anderem Konditionieren?
Sie macht nie "doofe" Sachen. Überholt nicht, zieht nicht am Strick, etc. pp.
Das hängt aber meiner Auffassung auch damit zusammen, dass sie sich aufgegeben hat, alles über sich ergehen lässt, sich nicht traut.
Sie wurde geschlagen, reagiert aber auch auf die Gerte einfach gar nicht. Zwischendurch guckt sie sehr ängstlich, an anderen Tagen ist es ihr egal. Ich putze sie gelegentlich mit Gerte in der Hand, berühre sie damit, damit sie die Angst verliert.
Sie wird aber nicht panisch oder wehrt sich, sondern lässt es einfach alles über sich ergehen.

Möchte, dass sie wieder Spaß am Leben hat, sich freut wenn ich komme, Spaß im Umgang mit Menschen hat, Motiviert ist usw.

Habt ihr da ein paar Tipps?
Pferde sollten so geritten werden, wie ein Surfer eine Welle reitet.
Der Surfer zwingt die Welle nicht, er will sie nicht verändern.
Er lernt einfach, wie er sie reiten kann.

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Scheckenfan
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Re: Erlernte Hilflosigkeit

Beitrag von Scheckenfan »

Ich würde Sachen bestärken, die ihr leicht fallen. Da gibt's doch bestimmt was? Zur Not halt auch erstmal "höfliches" Verhalten (davon zeigt sie ja genug), bis sie das Clickern an sich verstanden hat.
Clickerrate schön hoch, und richtig superleckere Leckerlis nehmen - Banane? Apfel? Zucker? (Solang sie das Stoffwechselmäßig abkann)

Sobald sie zeigt, jede EIgeninitiative bestärken, auch "Frechheiten" wie weggehen, Nasenstüber, ...
Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst in dieser Welt.
- Mahatma Ghandi
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