Warum wehren sie sich so selten wirklich?

Moderator: Keshia

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Hina_DK
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Re: Warum wehren sie sich so selten wirklich?

Beitrag von Hina_DK »

Tanuschka hat geschrieben:Auch wir wurden aus dem Paradies vertrieben ;) . Und wir wollen alle irgendwie dahin zurück, jeder auf seinem Weg und wir hier insbesondere mit unseren Pferden.
Nun ja, im Gegensatz zu den Tieren, hat sich die Menschheit sebst aus einem vermeindlichen Paradies vertreiben. Allerdings, wenn sie jemals im Paradies gelebt hätte, hätte es keine Notwendigkeit zur Weiterentwicklung gegeben und der Mensch wäre so gebleiben, wie er irgendwann mal war. Ich möchte aber ehrlich gesagt trotz aller unschönen Dinge in der Jetztzeit, wahrhaft nicht in der Steinzeit oder so leben müssen, nichtmal in der Zeit vor 100 Jahren. Ich bezweifle stark, dass das irgendwo Ähnlichkeit mit paradiesischem Leben war. Naja, wahrscheinlich wäre ich schon mit 3 Jahren oder noch früher an irgendeiner üblen Krankheit krepiert oder längst verhungert ;). Der Mensch strebt Zeit seines Lebens nach dem Ideal, vielleicht nach seinem ganz persönlichen Paradies aber das sieht für so ziemlich jeden anders aus. Wir werden uns ja nichtmal darüber einig, was wir als gut und schlecht empfinden und das so ziemlich in jedem Bereich des Lebens auch in Bezug auf Pferde.
Viele Grüße
Hina

Probiers mal mit Gemütlichkeit
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Cashew
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Re: Warum wehren sie sich so selten wirklich?

Beitrag von Cashew »

Tanuschka hat geschrieben:


Bei "sich wehren" geht es doch um eine Grenzsetzung. Wie soll ein Wesen, das seine eigenen Körpergrenzen nichtmals bewusst spürt, da eine Grenze setzen? Das ist doch genauso wie bei uns Menschen auch.
Die Art, wie die Pferde sich wehren, ist in der Regel nicht effektiv. Verzeiht mir den drastischen Vergleich, aber das ist wie bei geprügelten Ehefrauen, die zwar auch weinen und leiden unter ihrem gewalttätigen Mann, aber unfähig sind zu einer klaren Grenzziehung und sich wieder neu einlassen. Auch das ist für mich eine Frage der Bewusstheit. Eine wirklich erwachsene, klare Frau würde so etwas niemals mit sich machen lassen, bzw. würde schon gar nicht erst einen solchen Mann anziehen. Und Pferde sind eben ein bisschen wie Kinder oder auch wie Frauen, die ihre eigene Kraft völlig vergessen haben. Nur bin ich mir bei Pferden nicht sicher, wie weit entwicklungsfähig die überhaupt sind. Hat vielleicht damit zu tun, was wir ihnen zutrauen und wie wir sie sehen?!

Weiterhin nachdenklich,

Tanuschka
Ich finde deinen Vergleich nicht ganz fair. Du setzt voraus, dass eine Frau, die misshandelt wird, nicht wirklich erwachsen oder klar ist. Ich bin mir sehr sicher, dass das beileibe nicht immer der Fall ist. Es gibt tausend Gründe, Gewalt zu erdulden, das ist oftmals eine ungemein komplexe Geschichte. Welche Chance hat man überhaupt, sich zu wehren? Welche Vor-Nachteile bringt es, sich zu wehren? Das ist nicht immer so glasklar wie wir es gerne hätten. Auch das Bewusstsein "Opfer" oder "Täter" (oder beides) zu sein ist nicht unbedingt geschmälert. Manchmal dauert es nur eine Weile, bis man einen von den vielen möglichen (Aus)Wegen sieht - und wählt.
Viele Grüße,
Sarah und Co


Das Tagebuch des Herrn Nuss
in memoriam Die Orgelpfeifenbande
ehem User

Re: Warum wehren sie sich so selten wirklich?

Beitrag von ehem User »

Ich finde deinen Vergleich nicht ganz fair. Du setzt voraus, dass eine Frau, die misshandelt wird, nicht wirklich erwachsen oder klar ist. Ich bin mir sehr sicher, dass das beileibe nicht immer der Fall ist. Es gibt tausend Gründe, Gewalt zu erdulden, das ist oftmals eine ungemein komplexe Geschichte. Welche Chance hat man überhaupt, sich zu wehren? Welche Vor-Nachteile bringt es, sich zu wehren? Das ist nicht immer so glasklar wie wir es gerne hätten. Auch das Bewusstsein "Opfer" oder "Täter" (oder beides) zu sein ist nicht unbedingt geschmälert. Manchmal dauert es nur eine Weile, bis man einen von den vielen möglichen (Aus)Wegen sieht - und wählt.
Wenn ich hier von "nicht wirklich erwachsen" spreche, dann meine ich damit "noch in kindlichen Abhängigkeitsmustern verhaftet", die es im Moment noch verunmöglichen, sich aus leidvollen Beziehungen zu lösen. Das ist keine Frage des Alters, sondern der inneren Reife (ich nenne es Bewusstheit) . Und es ist auch in keinster Weise despektierlich gemeint und es geht durch alle Berufsgruppen, hat also auch nicht unbedingt etwas mit dem Bildungsstand zu tun. Mir ist durchaus klar, dass da komplexe Geschichten dahinterstecken, was aber für mich nichts an der Sache ändert. Und wiedermal, ich nehme mich da nicht aus, - trotz top Ausbildung und einem scheinbar sehr selbstbewussten und redegewandten Auftreten. Dennoch habe auch ich meine Baustellen und frage mich oft "Frau, wann endlich wirst Du erwachsen?". Ich nehme sogar an, die Tatsache, dass ich mir dieses thread- Thema schon so lange so sehr zu Herzen nehme, sagt mehr über mich selbst aus als mir lieb ist.
ehem User

Re: Warum wehren sie sich so selten wirklich?

Beitrag von ehem User »

Tanuschka hat geschrieben:
Mein Vorschlag einer Antwort auf diese Frage: die Fähigkeit, eine eigene Grenzüberschreitung (in der Täterrolle) bewusst wahrzunehmen und zu spüren, ist genauso weit oder eben nicht weit entwickelt wie die Fähigkeit, Grenzüberschreitungen (in der Opferrolle) bewusst wahrzunehmen und zu spüren.

...
Wer seine eigenen Grenzen nicht spürt, spürt auch die der anderen nicht. Also komme ich auch hier wieder dazu: es ist eine Frage der eigenen Bewusstheit. In dem Maße wie diese zunimmt, nehmen die Übergriffe sich selbst und anderen gegenüber ab.

Bei "sich wehren" geht es doch um eine Grenzsetzung. Wie soll ein Wesen, das seine eigenen Körpergrenzen nichtmals bewusst spürt, da eine Grenze setzen? Das ist doch genauso wie bei uns Menschen auch.
Die Art, wie die Pferde sich wehren, ist in der Regel nicht effektiv. Verzeiht mir den drastischen Vergleich, aber das ist wie bei geprügelten Ehefrauen, die zwar auch weinen und leiden unter ihrem gewalttätigen Mann, aber unfähig sind zu einer klaren Grenzziehung und sich wieder neu einlassen. Auch das ist für mich eine Frage der Bewusstheit. Eine wirklich erwachsene, klare Frau würde so etwas niemals mit sich machen lassen, bzw. würde schon gar nicht erst einen solchen Mann anziehen. Und Pferde sind eben ein bisschen wie Kinder oder auch wie Frauen, die ihre eigene Kraft völlig vergessen haben. Nur bin ich mir bei Pferden nicht sicher, wie weit entwicklungsfähig die überhaupt sind. Hat vielleicht damit zu tun, was wir ihnen zutrauen und wie wir sie sehen?!
Weiterhin nachdenklich,

Tanuschka[/quote]

Inzwischen sind hier so viele tolle Gedanken zusammengekommen ... und das Wertvollste an ihnen ist für mich die Einsicht, dass wir das Verhalten der Pferde nur verstehen können, wenn wir unser eigenes ganz ehrlich und "schonungslos" angucken.

Meine Erfahrung ist, dass Pferde nichts von ihrer Kraft und ihren Fähigkeiten vergessen, aber wenn sie immer wieder erfahren, dass die Menschen, sogar wenn sie auch Liebe und Zuneigung ausstrahlen, massiv ihre Grenzen verletzen und ihre Versuche zu kommunizieren (durch Körpersprache und Energie) ignorieren, ziehen sie sich zurück. Ihr Bewusstsein ist dann "woanders", und in extremeren Fällen stellen die Menschen erschüttert fest, dass das Pferd "abgestumpft" ist. Sie funktionieren dann vielleicht noch ganz gut, aber ihr Wesen zeigen und entfalten sie nicht mehr. Die Psychologie nennt das "dissoziieren", und das tun Tiere und Menschen, wenn eine Situation unerträglich wird, also bei Gewalt und Missbrauch.
In etwas milderer Form, bei wohlmeinenden Menschen, ziehen sie sich eben nur ein Stück weit nach innen zurück. Wie sollen sie es auch sonst aushalten, wenn permanent ihre Grenzen missachtet und ihre Bedürfnisse ignoriert werden? Wenn alles, was sie sagen, nicht ankommt? Und all ihre Bewegungen, jeder Schritt und jede Kopfhaltung, das ist alles Kommunikation, mit der sie den anderen Pferden und uns etwas sagen. Ich finde, wenn wir anfangen, diese Sprache zu lernen, und zwar nicht nur im Training, damit wir sie bewegen können, öffnen sich ganz neue Ebenen im Miteinander. Dazu brauchen wir allerdings Fähigkeiten, die uns im Laufe unserer Erziehung und Sozialisation meistens eher abhanden gekommen sind - Intuition, Körperinstinkt, Wahrnehmung von Energien ...

Ich glaube, dass das größte Problem die Ängste und eingeprägten Muster sind, die wir mit uns herumtragen, zumindest als Erwachsene - Kinder haben ja oft wunderbar authentische Freundschaften mit Pferden, weil sie das Pferd noch richtig spüren können. Diese hohe Intensität an gleichzeitiger Sanftmut und Kraft setzt uns zu, und wir haben meistens als Erwachsene verlernt, gesunde Grenzen zu setzen und bei anderen wahrzunehmen. Es ist wunderbar zu erleben, was passiert, wenn ein Pferd merkt, dass sich dies ändert. Dass Menschen auf einmal respektvoll an der (genau wahrnehmbaren) Grenze anhalten, die den individuellen Raum des Pferdes schützt (und das sind schon mal ein paar Meter). Dass sie sich aufmerksam nähern und zurückgehen, wenn sie nicht willkommen sind. Wenn es erlebt, dass es wirklich Nein sagen darf und das Training und Miteinander wirklich partnerschaftlich läuft.

Ich glaube auch, dass das vor allem mit Bewusstsein zu tun hat, wir brauchen dabei alle drei "brains", das Körperbewusstsein, das Herz und den Kopf in Einklang und Verbindung. Tja, da fängt der Weg an. Unsere Ängste und Blockaden wahrnehmen, die wir am Pferd ausleben. Unsere innere Verletzbarkeit zulassen, die wir erfahren, wenn wir mit gleichzeitig so feinen und so kraftvollen Tieren zusammen sind. Unsere verlernten Wahrnehmungsfähigkeiten wiederfinden usw.

Irgendwo weiter vorn hast du, Tanuschka, geschrieben, dass bedingungslose Liebe nur durch echte Freiheit entstehen kann. Das glaube ich auch, und all unsere Liebe nützt unseren Pferden wenig, wenn wir ihnen diese Freiheit nicht zugestehen. Aber wenn wir das tun, sind sie tatsächlich bereit, uns alles zu schenken, je nach ihrem Naturell.

LG
Lizari
ehem User

Re: Warum wehren sie sich so selten wirklich?

Beitrag von ehem User »

Danke Dir, Lizari, für diesen Beitrag :hug:
Er spricht mir aus der Seele.

Er berührt mich sehr. Denn genau diese wunderbare Freundschaft, die ich als Kind bereits kennenlernen durfte und lange vermisst habe, entwickelt sich seit Längerem nun auch bei uns. Dazu musste ich aber gehörig Ballast abwerfen.
Lizari hat geschrieben: und all unsere Liebe nützt unseren Pferden wenig, wenn wir ihnen diese Freiheit nicht zugestehen
Ich möchte sogar behaupten, dass es keine tiefe, wahre Liebe sein kann, wenn sie keine Freiheiten zugesteht. Denn dann fehlt ihr die Achtung.
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Heupferdchen
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Re: Warum wehren sie sich so selten wirklich?

Beitrag von Heupferdchen »

Ich mag noch ein bisschen auf das ursprüngliche Thema zurückkommen, denn über menschliche Beziehungen zu urteilen, empfinde ich als problematisch und vermessen - und komme immer mehr davon ab. Andere Menschen werden gute Gründe dafür haben, sich eben so und nicht anders zu verhalten.

Erst mal :hug: an Tanuschka: Ich kann gut nachvollziehen, dass dir nach der Trennung deines Pferdes von diesem Wallach das Herz blutet.
Tanuschka hat geschrieben:Weshalb wehren sich Pferde so wenig gegen die oft rüde Behandlung durch uns Menschen?
Es sind so starke Tiere, viel viel stärker als wir und was lassen die sich alles gefallen? Notwehr ist doch etwas, was instinktiv veranlagt ist. Ist das bei den meisten Pferden ausgeschaltet?
Ich schließe mich den anderen an, die dafür vor allem die Selektion auf 'duldsam und umgänglich' dafür verantwortlich machen. Es gibt wenige Tierarten, die überhaupt als domestizierbar gelten. So las ich als Kind ganz erstaunt in Grzimeks Tierleben, dass sich Asiatische Halbesel hoch aggressiv dem Menschen gegenüber verhalten (man hat als Kind ja irgendwie diese Vorstellung im Kopf, dass die gesamte Tierwelt nett und harmlos ist).
Tanuschka hat geschrieben:Ich sehe die Parallele zu uns Menschen. Was Menschen alles mit sich machen lassen und "brav" mitmachen!
'Bravheit' kann durchaus ein evolutionärer Vorteil sein. Deeskalationsstrategien sind bei sozialen Tieren doch recht verbreitet, oder? Man stelle sich das Gegenteil vor: Menschen würden beim kleinsten Konflikt aufeinander losgehen oder auch nur 'ihre Grenzen setzen'. Deutlich mehr Konflikte wären die Folge, die neben der Fitness der anderen Beteiligten indirekt auch die eigene Fitness schmälern. Also macht ein solches Verhalten durchaus auch für den einzelnen Sinn.
Tanuschka hat geschrieben:Pferde sind doch eigentlich ein Symbol für Wildheit und Freiheit. Aber die Pferde, die ich sehe, sind höchstens noch eine Karikatur davon.
Hmm, ich empfinde das schon anders. Obwohl ich häufig unschöne Pferd-Mensch-Interaktionen sehe, sehe ich doch ebenso häufig zufriedene, in sich ruhende, ganz normale Pferde. Zumindest, so lange keine Menschen dabei sind.
Dazu kommt, dass ein zufriedenes und entspanntes Pferd oft nicht 'wild und frei', sondern reichlich unspektakulär aussieht.
Tanuschka hat geschrieben:Ich bin zur Zeit Zeugin einer solchen Behandlung eines Pferdes. Es soll jetzt "ausgebildet" werden ohne jedes Gefühl, ohne jede Beziehung zu dem Pferd. Und dieses Pferd hat sehr viel Feuer, ist aber schon 12 Jahre alt und hat in seinem Leben nix Gutes mit Menschen erlebt. Sein Körper und seine Muskulatur, die tiefen Kuhlen über seinen Augen sprechen Bände. Und dennoch ist das ein vitaler Kerl, der beim Zusammentreffen mit meiner Stute wieder zum Hengst wurde. Da wurde er richtig lebendig und fröhlich und stand nun bald 2 Monate mit ihr auf der Weide. Aber da er mit ihr zu vital und lebendig wurde und anfing sich gegen seine "Ausbildung" zu wehren, haben sie ihn von meinem Pferd getrennt :( . Könnt Ihr Euch das Gewieher und diese Traurigkeit quer über die Elektrozäune vorstellen? Ich war völlig fassungslos und habe jetzt gut eine Woche gebraucht, um mich wieder zu sammeln. Es war absolut unfassbar für mich, dass die Menschen so etwas machen, nur um ihr Pferd "kleinzukriegen". Aber ihre Rechnung scheint aufzugehen. Und er wehrt sich nicht!
Ich glaube nicht, dass ein Pferd einen Zusammenhang zwischen der Trennung von seiner Stute und seinem selbstbewussten Verhalten beim 'Einreiten' herstellen kann. Dass seine Besitzer für die Elektrozäune verantwortlich sind, die jetzt zwischen den beiden stehen.

Bei meinem Pony bin ich mir sehr sicher, dass er nicht weiß, wie viel Macht ich über ihn habe. Dass ich über sein ganzes Leben (und auch über seinen Tod) nahezu frei entscheiden und verfügen kann. Zum Glück. Denn dann müssten unsere Pferde noch deutlich mehr vor ihren Eigentümern zittern. Wie man bei einer solchen Ausgangssituation noch von einer Beziehung auf Augenhöhe sprechen kann, ist mir ein völliges Rätsel.

Ich sehe das eher so: Pferden erkennen nicht die größeren Zusammenhänge, sie leben in ihrer eigenen kleinen Welt. Das macht den Umgang mit ihnen ja so angenehm und wohltuend. Und: Wir nehmen den Einfluss unserer Arbeit mit dem Pferd viel zu wichtig. Vielleicht, weil wir doch zu sehr von Menschen auf Pferde schließen? Die auf unsere Bestätigung und unser Wohlwollen nicht so angewiesen sind, wie wir vielleicht glauben?

Am Samstag war ich auf dem Münchner Oktoberfest und bin an einer Reitbahn vorbeigelaufen, in der Ponies mit kleinen Mädchen auf dem Rücken ihre Runden drehen. Inmitten dieses ganzen Lärms. Kein schönes Bild: Die Ponies hatten allesamt ihre Ohren Richtung Boden gedreht, trotteten ihre Runden. Aber ist das nun schlimm oder einfach nur die Methode der Ponies, mit dieser Reizüberflutung umzugehen? Was wäre die Alternative? Das Mädchen abschmeißen, über die Umzäunung springen, durch die Menschenmassen in Richtung Bavariapark galoppieren? Die Ponies kennen doch nichts anderes. Und wissen: Die Arbeit endet irgendwann, dann gibts Heu und hoffentlich auch irgendwann eine Graskoppel.

Diese Ponies sind bestimmt länger im Einsatz als die meisten Freizeitpferde. Wie das Pferd einer Stallkollegin, das seine Reiteinheiten mit ähnlichem Gesichtsausdruck absolviert wie die Kirmesponies. Und auf dem Paddock, in der Herde, im Umgang mit anderen Menschen trotzdem neugierig und freundlich ist. Der weiß: Die Reiteinheit endet irgendwann.

Ich habe den Eindruck, dass eine tiefe Mensch-Pferd-Beziehung - die es ohne Zweifel gibt - eher ein Zusatz ist, eine Bereicherung, als etwas, was jedes Pferd braucht und wonach es sich sehnt. Im Gegensatz zu uns Menschen, die in dieser Hinsicht ganz eigene Wünsche und Bedürfnisse haben!
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kolyma
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Re: Warum wehren sie sich so selten wirklich?

Beitrag von kolyma »

Am Samstag war ich auf dem Münchner Oktoberfest und bin an einer Reitbahn vorbeigelaufen, in der Ponies mit kleinen Mädchen auf dem Rücken ihre Runden drehen. Inmitten dieses ganzen Lärms. Kein schönes Bild: Die Ponies hatten allesamt ihre Ohren Richtung Boden gedreht, trotteten ihre Runden. Aber ist das nun schlimm oder einfach nur die Methode der Ponies, mit dieser Reizüberflutung umzugehen? Was wäre die Alternative? Das Mädchen abschmeißen, über die Umzäunung springen, durch die Menschenmassen in Richtung Bavariapark galoppieren? Die Ponies kennen doch nichts anderes. Und wissen: Die Arbeit endet irgendwann, dann gibts Heu und hoffentlich auch irgendwann eine Graskoppel.
Als Kind hab ich mir immer vorgestellt, wie ich so ein Pony befreie, in dem ich über die Absperrung springe und mit dem Pony weggaloppiere...
Nichts desto trotz - solche Ponykaruselle sind in meinen Augen Tierquälerei.

Wenn man sich mal Wildpferde in freier Natur anschaut, wird man feststellen, dass Wildheit nicht wirklich nach außen erkennbar ist. Vielleicht spielen mal Pferde miteinander, die meiste Zeit wird gegrast und gewandert. Vielleicht interpretieren wir auch etwas zu viel Mythos in das Wesen Pferd. Auch eine Mystifizierung wird dem Tier nicht gerecht, weil sie nicht der wahren Natur entspricht. Auch das Pferd ist in der Herde Zwängen und klaren Strukturen unterlegen. Vielleicht deshalb tun sich Pferde leicht damit, sich dem Menschen in vielerlei Hinsicht unter zu ordnen. Natürlich wird die Selektion durch den Menschen ihren Teil dazu beitragen.
Meine ehem. RB war ein Wildimport aus Irland. Er war bis zu seinem fünften Lebensjahr Wildpferd. Der Umgang mit ihm war durchaus ein anderer als mit einem von Geburt an auf den Menschen geprägten Pferd. Er war viel eher bereit sich zu "wehren" oder seinen Willen nach außen zu zeigen. Allerdings hatte er auch eine unglaubliche Bereitschaft eine echte Partnerschaft einzugehen um mit seinen Menschen buchstäblich durchs Feuer zu gehen.
Das hat mich sehr geprägt, dass eine Zusammenarbeit nur mit wirklicher, auf Respekt basierender Partnerschaft möglich ist. Man kann ein Pferd zu vielen "zwingen" - aber der wahre Gewinn ist es, ein Pferd so zu motivieren, dass es das was man von ihm will, aus freien Stücken und mit Freude tut.
Dazu ist es nötig zuzuhören. Mein Pferd sagt eigentlich selten "ich will nicht" - er sagt oft "ich kann nicht" - dann muss ich Wege finden, das Unmachbare für ihn machbar zu machen - und dann ist er auch mit Freude dabei. Jede Widersetzlichkeit ist eine Frage an mich, auf die ich eine Antwort finden muss.
Bild Geduld ist die hohe Kunst sehr langsam wütend zu werden...:ohm2: :sofort:


"Besser wenig und das Wenige gut."Egon v. Neindorff

leidenschaftliche Pferdefotografie: https://www.facebook.com/melanie.viereckel.photography
ehem User

Re: Warum wehren sie sich so selten wirklich?

Beitrag von ehem User »

Kolyma, das finde ich einen sehr schönen Beitrag in diesem tollen Thema hier. Ich denke auch oft, dass wir viel zu viel in unsere Pferde hineininterpretieren und sie im Grunde genommen alles viel einfacher sehen als wir. Und auch was die "Wildheit" betrifft denke ich, dass das Soziale Gruppen-und Herdengefüge der Pferde eigentlich eher eine sehr strukturierte und ruhige Angelegenheit ist, von wenigen Fight-and-Flight Situationen abgesehen.
Was Domestizierung, Zucht und Selektion betrifft, glaube ich, dass Pferde sich in ihren Instinkten und ihrem Verhalten sehr wenig verändert haben, die Zucht beschränkt sich doch sehr auf äußere Merkmale, finde ich. Den Hinweis auf die Sozialisation und den Umgang mit ihnen finde ich sehr viel wichtiger: Alle unsere Pferde, auch die wildesten und "unerzogensten" wachsen von der Geburt an in Zäunen udn Absperrungen auf, mit Tierarzt, Hufpflege, Hängerfahrten, menschlicher Fürsorge. Das ist eine Grenzsetzung einerseits und ein Eindringen in ihren Raum und ihre Persönlichkeit, eine Nichtrespektierung ihrer Grenzen, die sie vom Tag ihrer Geburt an alltäglich ungefragt erfahren und an die sich anzupassen sie vom ersten Tag lernen. Außerdem haben die meisten Menschen die Sprache der Pferde nicht erlernt, Menschen sind in den seltensten Fällen bereit, Pferden wirklich zuzuhören in der Lage, wirklich zu verstehen, was Pferde gerade signalisieren. Auch daran sind die meisten Pferde gewöhnt, dass sie von Menschen einfach nicht gehört und verstanden werden. Und zu guter Letzt ergänzen sich diese Erfahrungen mit den Instinkten eines Fluchttieres, welches Schutz und Sicherheit vor Gefahr eben in Rückzug und Flucht sucht und nur in höchster Angst in einer ausweglosen Situation den Kampf wählt.
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Hina_DK
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Re: Warum wehren sie sich so selten wirklich?

Beitrag von Hina_DK »

Ich denke, Pferde gehören im Grunde auch zu den in ihrem Verhalten anpassungsfähigsten Geschöpfen überhaupt, die bewusste Zucht durch den Menschen trägt noch dazu bei, dass das auch noch gefördert wird. Wenn es um wilde, freie Pferde geht, denke ich immer wieder an die Namib-Pferde. Die Vorfahren dieser Pferde stammten ja vor ca. 100 Jahren eben nicht aus der freien Wildbahn. Kein Mensch hätte gedacht, dass diese edlen Tiere überhaupt in der Lage wären, dort unter diesen Bedingungen zu überleben. Sie haben es aber geschafft und sich zwar nicht genetisch aber in ihrem Verhalten diesen Bedingungen erfolgreich angepasst. Diese Pferde haben ein extrem hartes Leben und doch wirken sie durchaus zufrieden. Ich würde sogar behaupten, sie führen ein viel härteres Leben, als so manches Pferd in einer Haltung und Behandlung, die uns nur ein Kopfschüttel und die Frage, warum wehren die sich eigentlich nicht, abringen.
Viele Grüße
Hina

Probiers mal mit Gemütlichkeit
ehem User

Re: Warum wehren sie sich so selten wirklich?

Beitrag von ehem User »

Meine Erfahrung ist, dass Pferde nichts von ihrer Kraft und ihren Fähigkeiten vergessen, aber wenn sie immer wieder erfahren, dass die Menschen, sogar wenn sie auch Liebe und Zuneigung ausstrahlen, massiv ihre Grenzen verletzen und ihre Versuche zu kommunizieren (durch Körpersprache und Energie) ignorieren, ziehen sie sich zurück. Ihr Bewusstsein ist dann "woanders", und in extremeren Fällen stellen die Menschen erschüttert fest, dass das Pferd "abgestumpft" ist. Sie funktionieren dann vielleicht noch ganz gut, aber ihr Wesen zeigen und entfalten sie nicht mehr. Die Psychologie nennt das "dissoziieren", und das tun Tiere und Menschen, wenn eine Situation unerträglich wird, also bei Gewalt und Missbrauch.
In etwas milderer Form, bei wohlmeinenden Menschen, ziehen sie sich eben nur ein Stück weit nach innen zurück. Wie sollen sie es auch sonst aushalten, wenn permanent ihre Grenzen missachtet und ihre Bedürfnisse ignoriert werden? Wenn alles, was sie sagen, nicht ankommt? Und all ihre Bewegungen, jeder Schritt und jede Kopfhaltung, das ist alles Kommunikation, mit der sie den anderen Pferden und uns etwas sagen. Ich finde, wenn wir anfangen, diese Sprache zu lernen, und zwar nicht nur im Training, damit wir sie bewegen können, öffnen sich ganz neue Ebenen im Miteinander. Dazu brauchen wir allerdings Fähigkeiten, die uns im Laufe unserer Erziehung und Sozialisation meistens eher abhanden gekommen sind - Intuition, Körperinstinkt, Wahrnehmung von Energien ...

Ich glaube, dass das größte Problem die Ängste und eingeprägten Muster sind, die wir mit uns herumtragen, zumindest als Erwachsene - Kinder haben ja oft wunderbar authentische Freundschaften mit Pferden, weil sie das Pferd noch richtig spüren können. Diese hohe Intensität an gleichzeitiger Sanftmut und Kraft setzt uns zu, und wir haben meistens als Erwachsene verlernt, gesunde Grenzen zu setzen und bei anderen wahrzunehmen. Es ist wunderbar zu erleben, was passiert, wenn ein Pferd merkt, dass sich dies ändert. Dass Menschen auf einmal respektvoll an der (genau wahrnehmbaren) Grenze anhalten, die den individuellen Raum des Pferdes schützt (und das sind schon mal ein paar Meter). Dass sie sich aufmerksam nähern und zurückgehen, wenn sie nicht willkommen sind. Wenn es erlebt, dass es wirklich Nein sagen darf und das Training und Miteinander wirklich partnerschaftlich läuft.

Ich glaube auch, dass das vor allem mit Bewusstsein zu tun hat, wir brauchen dabei alle drei "brains", das Körperbewusstsein, das Herz und den Kopf in Einklang und Verbindung. Tja, da fängt der Weg an. Unsere Ängste und Blockaden wahrnehmen, die wir am Pferd ausleben. Unsere innere Verletzbarkeit zulassen, die wir erfahren, wenn wir mit gleichzeitig so feinen und so kraftvollen Tieren zusammen sind. Unsere verlernten Wahrnehmungsfähigkeiten wiederfinden usw.
Das ist unter den vielen tollen Beiträgen hier ein ganz besonders schöner Beitrag, der mich sehr berührt hat. Danke dir dafür, Lizari.
Unsere innere Verletzbarkeit zuzulassen, ja, das ist wohl unabdingbar. Aber ab dann dann wird es eigentlich richtig schwer. Denn wenn wir das tun, dann werden wir nicht nur unserem Pferd gegenüber durchlässiger und feiner, sondern allem gegenüber. So wie die Menschen mit ihren Pferden umgehen, so gehen sie auch mit sich selbst und mit ihren Mitmenschen um und ich MUSS mitten unter ihnen sein. Sich zu wehren, scheint ja oft schon schwer genug, aber diese entsetzliche Ohnmacht aushalten zu müssen, ist manchmal schier unerträglich. Ich kann es den Pferden nicht verübeln, wenn sie unter uns Menschen "dicht" machen, aber ich kann das leider gar nicht mehr :( .
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